Dossier: Wasserstoff

Fokusthema Wasserstoff

Am Wasserstoff kommt aktuell niemand vorbei. Von der Landespolitik bis zur EU- Kommission: auf allen politischen Ebenen wird darüber diskutiert. Insbesondere in den vergangenen zwei Jahren ist Wasserstoff enorm populär geworden – vor allem wegen der Klimaschutzziele von Paris.

Vor dem Pariser Abkommen wurde für Klimaschutzmaßnahmen das sogenannte 80-Prozent-Ziel diskutiert, das vorsah, den Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2050 um 80 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 zu reduzieren. Für dieses Ziel hätte es Berechnungen zufolge ausgereicht, fossile Energieträger durch Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu ersetzen. Wasserstoff und künstlich hergestellte, das heißt synthetische Gase oder Flüssigtreibstoffe hätten in diesem Szenario eine eher untergeordnete Rolle gespielt.

ZielmarkeKlimaneutrale Welt bis 2050

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Nordrhein-Westfalen hat sich zum Ziel gesetzt, seinen Vorsprung als Wasserstoffland weiter auszubauen und die Schlüsseltechnologie gezielt voranzutreiben.

Wasserstoff als Schlüsseltechnologie

Doch dann kam mit dem Pariser Abkommen im Jahr 2015 die Einigung, die globale Erderwärmung verglichen zu vorindustriellem Niveau auf unter 2 °C zu begrenzen, besser noch auf 1,5 °C. Diese Vereinbarung lässt sich mit dem 80-Prozent-Ziel nicht einhalten. Logische Konsequenz aus den Klimaschutzzielen von Paris war daher ein neues Ziel: Treibhausgas-Neutralität. Neutralität bedeutet eine neutrale Bilanz zwischen Verbrauch und Ausstoß. Da wir Treibhausgase jedoch kaum verbrauchen, bedeutet Treibhausgas-Neutralität in der Realität, dass der Ausstoß von Treibhausgasen nicht um 80 Prozent, sondern um nahezu 100 Prozent reduziert werden muss. Ein Unterschied, der es in sich hat – und der ohne Wasserstoff und synthetische Gase oder Flüssigkraftstoffe nicht gelingen kann. Insbesondere in der Industrie werden in Zukunft große Mengen an Wasserstoff benötigt, sowohl als Energieträger als auch als Rohstoff für Produktionsprozesse. Und auch andere Sektoren wie die Mobilität werden auf wasserstoff- basierte Anwendungen umsteigen. Der Bedarf an Wasserstoff wird rasant steigen, Schätzungen zufolge kann er sich bis zum Jahr 2030 in Nordrhein-Westfalen verdoppeln. Mithilfe von Wasserstoff können 25 Prozent der jährlichen CO2-Emissionen in Nordrhein-Westfalen eingespart werden.

Allianzen und Aktivitäten

Vor diesem Hintergrund verwundern weder die Popularität noch die Aktivitäten rund um den Wasserstoff. Auf europäischer Ebene schmiedet man große Allianzen und Partnerschaften. So hat die EU-Kommission im März dieses Jahres die Gründung einer „Europäischen Allianz für sauberen Wasserstoff“ angekündigt. Darüber hinaus wird intensiv an einem großen und grenzübergreifenden Wasserstoffprojekt gearbeitet, das im gemeinsamen europäischen Interesse liegt und der gesamten Europäischen Union zu Gute kommen soll (Important Project of Common European Interest, IPCEI). Auf Bundesebene hat das Kabinett im Juni 2020 die nationale Wasserstoff-Strategie verabschiedet, die 38 Maßnahmen für die weitere Entwicklung im Bereich Wasserstoff definiert. Speziell für Nordrhein-Westfalen arbeitet die Landesregierung derzeit sowohl an einer Wasserstoff-Roadmap als auch an einer Modellregion Wasserstoffmobilität.

Wasserstoff-Roadmap NRW

Mit der Wasserstoff-Roadmap NRW zeigt die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, dass Sie die Wasserstofftechnologie weiter stärken und unterstützen wird. Mithilfe des Forschungszentrums Jülich und einem begleitenden Beteiligungs- und Stakeholderprozess beschreibt die nordrhein-west- fälische Roadmap die Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft und analysiert Bedarfe, Quellen und Infrastrukturen. Gemeinsam mit Unternehmen, Wissenschaft und Gesellschaft wollen wir nun diesen Transformationspfad gestalten und begehen.

Eine Reise quer durch Nordrhein-Westfalen
Wasserstoffforschung

In ganz Nordrhein-Westfalen wird zu allen möglichen Wasserstoff-Aspekten geforscht. Stellvertretend für diese Aktivitäten werden hier acht Forschungsstandorte vorgestellt – in einer virtuellen Reise quer durch das Land.

Rheinisches Revier/Jülich: Wandel zu einer Wasserstoff- Modellregion

Das Rheinische Revier zwischen Aachen, Mönchengladbach, Düsseldorf und Köln wird sich in den kommenden Jahren grundlegend verwandeln: Aus einem traditionellen Braunkohleabbaugebiet soll eine weitgehend treibhausgas-neutrale, europäische Modellregion für moderne Energieversorgung und Ressourcensicherheit werden. Dieser Wandel ist ohne Wasserstoff kaum denkbar. Die in der Region schon heute bestehende Forschung zur Wasserstoffwirtschaft wird in Zukunft am Forschungszentrum Jülich gebündelt: in dem neuen Helmholtz-Cluster für nachhaltige und infrastrukturelle Wasserstoffwirtschaft.

Ein Forschungsschwerpunkt des Clusters werden flüssige organische Wasserstoffträger sein (LOHC, Liquid Organic Hydrogen Carriers). LOHC sind Verbindungen, die Wasserstoff durch eine chemische Reaktion sowohl aufnehmen als auch abgeben können. Sie sind also Trägerflüssigkeiten, die Wasserstoff speichern können. Haben die LOHC den Wasserstoff wieder abgegeben, können sie den Speicherzyklus noch mehr als hundertmal durchlaufen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Dass auf Basis solcher LOHC-Systeme eine systematische Wasserstoffwirtschaft mit Speicherung, Transport und Handel funktionieren kann, soll das neue Helmholtz-Cluster unter anderem demonstrieren.

Jülich: Energieträger und Brennstoffzellen

Eine Schlüsseltechnologie für den Klimaschutz ist auch der Einsatz von Wasserstoff in Brennstoffzellen. Dies gilt insbesondere im Mobilitätssektor. Forschung und Entwicklung beschäftigen sich aber auch mit Fragen zu Speicherung und Transport von Wasserstoff, beispielsweise um Tankstellen zu beliefern. Aktuell werden dazu Lastwagen mit Hochdrucktanks genutzt, doch auch alternative Konzepte sind denkbar und werden erforscht: Wasserstoff-Pipelines, flüssiger Wasserstoff (LH2), Methanol und Ammoniak als flüssige Wasserstoffträger oder die LOHC-Technologie.

Neben vielfältigen anderen Wasserstoffthemen arbeitet das Forschungszentrum Jülich außerdem an Festoxid- Brennstoffzellen (SOFC, Solid Oxide Fuel Cells). Sie zählen zu den Hochtemperatur-Brennstoffzellen und werden in Jülich entwickelt, charakterisiert und optimiert. Professor Ludger Blum, der die Abteilung Festoxid-Wandler am Institut für Energie- und Klimaforschung leitet, sagt: „SOFC können sowohl biogene Gase wie Faulgase oder Biomethan als auch reinen Wasserstoff mit elektrischen Wirkungsgraden von 60 bis 65 Prozent verstromen. Die dabei entstehende Abwärme lässt sich für verschiedenste Anwendungen weiternutzen. Außerdem kann der gleiche Brennstoffzellenstapel nicht nur als Brennstoffzelle, sondern auch als Elektrolyseur betrieben werden. Dadurch ergibt sich insgesamt eine deutlich höhere Nutzungsdauer. Im Elektrolysebetrieb wird außerdem Abwärme aus anderen Prozessen genutzt, wodurch Elektrolysewirkungsgrade im Bereich von 85 Prozent möglich sind.“

Auf dem Bild präsentiert Prof. Blum das Herzstück der reversiblen Hochtemperaturanlage:  Sie kann nicht nur aus Wasserstoff Strom erzeugen,  sondern auch umgekehrt aus Strom und Wasserdampf Wasserstoff produzieren.

Das Helmholtz-Cluster soll Nordrhein-Westfalen zum Technologieführer im Wasserstoffbereich machen.

Duisburg: Industrielle Produktionsprozesse und Infrastruktur

Im Westen des Ruhrgebiets hat sich auch die Stahlindustrie auf den Weg in eine Treibhausgas-neutrale Zukunft gemacht. Gleich zwei große Forschungsprojekte befinden sich auf dem Gelände der thyssenkrupp Steel AG in Duisburg. In dem Projekt Carbon2Chem wird daran geforscht, wie aus Hüttengasen, die im Hochofen entstehen, chemische Grundstoffe wie Methanol oder Düngemittel hergestellt werden können.

Bei dem Projekt H2BF und dem daran anschließenden Reallabor H2Stahl geht man noch einen Schritt weiter: Schon im Produktionsprozess von Stahl wird statt Kohlestaub anteilig Wasserstoff eingesetzt, um so den Ausstoß von Treibhausgasen zu minimieren. Mit der Vermeidung von CO2 durch den Einsatz von Wasserstoff und – im nächsten Schritt – durch den Betrieb von Direktreduktionsanlagen begibt sich die Stahlindustrie auf einen Transformationspfad zur Klimaneutralität und wird zu einem Großverbraucher von Wasserstoff. Das Forschungsprojekt adressiert daher auch eine entsprechende Infrastruktur zur Wasserstoffversorgung.

Bochum: Katalysatoren optimieren

An der Ruhr-Universität Bochum sucht man nach Alternativen zu den bisher üblichen, aber teuren und nur begrenzt verfügbaren Edelmetallen, die als Katalysatoren für die Elektrolyse genutzt werden. Möglicherweise können die heute verwendeten Edelmetalle wie Iridium und Platin durch andere Elemente ersetzt werden. Es wird deshalb zum Beispiel daran geforscht, wie resistent neue Katalysatoren gegenüber Verunreinigungen sind. Fragen wie diese möchte Professorin Dr. Kristina Tschulik mit ihrer Forschungsgruppe für Elektrochemie und nanoskalige Materialien beantworten. „Für Elektrolyseure sind Katalysatoren deshalb so wichtig, weil Wasser reaktionsträge ist. Wasserstoff entsteht aber natürlich gerade durch diese chemischen Reaktionen, deshalb müssen die Reaktionsraten und -geschwindigkeiten gesteigert werden. Das gelingt durch Katalysatoren. Besonders geeignet sind Nanokatalysatoren, da sie aufgrund ihrer geringen Größe im Vergleich zum Volumen eine extrem hohe reaktive Oberfläche haben, wobei nur eine geringe Menge der oft teuren Katalysatormaterialien benötigt wird. Um Katalysatoren aus anderen Materialien gezielt neu entwickeln zu können, schaffen wir neuartige Messmethoden, mit denen wir die Aktivität und die Alterung von Elektrokatalysatoren selbst an einzelnen Nanopartikeln im Detail untersuchen können.“

Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen: Entwicklung neuartiger Elektrolyseure & Brennstoffzellen

An Elektrolyseuren und Brennstoffzellen forscht auch das Energieinstitut der Westfälischen Hochschule. Um beispielsweise die Leistungsdichte zu optimieren, werden verschiedene Werkstoffe, Geometrien und Anordnungen getestet. Aber auch neue Grundkonzepte für modulare Brennstoffzellen- und Elektrolyseurstapel (sogenannte Stacks) werden entwickelt. Professor Dr. Michael Brodmann, Vizepräsident für Forschung und Entwicklung und Direktor des Westfälischen Energieinstituts beschreibt die Forschungsziele: „In den letzten Jahren haben wir mit vielen Partnern Stackkonzepte entwickelt. So sind Ideen und Patente entstanden, die auch für die Wasserelektrolyse unter sehr hohem Druck einsetzbar sind. Mit diesen Forschungsergebnissen wollen wir den Wasserstoff zukünftig direkt auf Speicher- bzw. Betankungsdruck produzieren. Zudem fokussieren wir uns auf den nächsten Schritt: den sukzessiven Aufbau einer professionellen Fertigung von Elektrolyseuren.“

Münster: Sektorenkopplung durch Wasserstoff

Im Münsterland erforscht die Fachhochschule Münster eine der Kernkompetenzen des Wasserstoffs: die Sektorenkopplung. Zusammen mit der Klimakommune Saerbeck wird untersucht, wie Energiebedarf und -verfügbarkeit aus erneuerbaren Quellen in Einklang gebracht werden können. Professor Dr. Christof Wetter aus dem Fachbereich Energie Gebäude Umwelt der Fachhochschule Münster erläutert die Arbeiten: „Ein Ergebnis unserer Forschung ist, dass es besonders wichtig ist, die Energie in der richtigen Menge, zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Form bereitzustellen. Daher unser Fokus auf die Sektorenkopplung. Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass aus biogenen Abfällen und Abwasser unmittelbar Wasserstoff hergestellt werden kann. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass sich Wasserstoff und CO2 bei niedrigen Temperaturen und unter Umgebungsdruck zu Methan konvertieren lassen. Damit ist es möglich, Biomethan auf rein biologischem Weg zu erzeugen. Hinzu kommen Fortschritte in der Elektrolyse. Durch den zunehmenden Wasserstoffbedarf und die damit steigende Wirtschaftlichkeit erwarten wir, dass Wasserstoff einen wichtigen Platz in dem Gesamtkonzept der Energiebereitstellung einnehmen wird.“

Wasserstoff wird schon in naher Zukunft einen wichtigen Platz im Gesamtkonzept der Energieversorgung einnehmen.

Wesseling: Wasserstoff in großem Stil produzieren

Insgesamt wird der Bedarf an Wasserstoff enorm zunehmen. Die Internationale Energieagentur erwartet eine Steigerung von 30 Prozent innerhalb von zehn Jahren – allein für die Herstellung von Basischemikalien wie Methanol und Ammoniak. Weiterer Wasserstoff wird gebraucht, wenn zukünftig auch Treibstoffe wie Benzin, Diesel und Kerosin verstärkt aus Wasserstoff und CO2 hergestellt werden. Die Produktion von Wasserstoff wird also eine tragende Rolle für den Klimaschutz in der Industrie und Mobilität spielen. Vor diesem Hintergrund entsteht auf dem Gelände der Shell Rheinland Raffinerie in Wesseling eine Anlage zur Wasserstoffherstellung durch PEM-Elektrolyse. PEM steht für die im Elektrolyseur verbaute protonendurchlässige Membran (Proton Exchange Membrane). Gegenüber anderen Elektrolyseverfahren hat die PEM-Elektrolyse den Vorteil, dass sie sich sehr schnell auf eine unterschiedlich hohe Stromzufuhr einstellen kann und dadurch gut für den Betrieb mit erneuerbaren Energien und deren schwankenden Energiemengen geeignet ist. Die Elektrolyseanlage in Wesseling wird weltweit die größte ihrer Art sein.

Über die Grenzen hinweg: das Gesamtsystem im Blick

Durch die vielfältigen Anwendungen von Wasserstoff, insbesondere im industriellen Maßstab, wird sich der Bedarf an Wasserstoff für Nordrhein-Westfalen nicht mit der vor Ort produzierten Menge decken lassen – selbst bei gewährleistetem Ausbau von Elektrolyseuren und erneuerbaren Energien. Nordrhein-Westfalen wird daher auf Importe aus anderen Bundesländern und Nachbarstaaten angewiesen sein. Vor diesem Hintergrund sind insbesondere auch solche Innovationsprojekte interessant, die den komplexen Anwendungsbezug aus Herstellung, Speicherung, Transport und Integration neuer Transportsysteme in bestehende Infrastrukturen im Blick haben. Beispiele sind die Projekte GET H2, HyBridge oder Element Eins. Sie liegen zwar nicht ausschließlich in Nordrhein-Westfalen, haben aber das Potenzial, Nordrhein-Westfalen in Zukunft mit Wasserstoff zu versorgen.

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