Durch die immer größer werdende Flexibilität im Energiesystem wird unser Stromnetz in Zukunft mit Lastspitzen umgehen müssen, für die es aktuell nicht ausgelegt ist. In dieser Situation fällt als erste Lösungsmöglichkeit der Netzausbau ein: Mithilfe neuer Stromleitungen soll die Netzkapazität flächendeckend erhöht werden. So sollen Lastspitzen abgefangen und Spannungsschwankungen ausgeglichen werden können. Der Komplett-Ausbau der Netze hat jedoch einen Haken: Alleine im Niederspannungsbereich müssten im Worst Case rund 60 Prozent des Netzes ausgebaut bzw. erneuert werden. Dafür bräuchte es enorme Investitionen, zahlreiche Bau-Fachkräfte – und viel Zeit. Was also tun? Wir lassen drei Experten zu Wort kommen.

 

Zeit gewinnen durch Digitalisierung

Für Entspannung hinsichtlich eines stabilen Systems und gesicherter Energieversorgung kann die Digitalisierung sorgen: Werden die Netze digital, müssen sie weniger schnell ausgebaut werden.

Durch die Digitalisierung gewinnen wir Zeit im Netzausbau. Das ist essenziell – weil es gar nicht so viele Bagger gibt, die das Netz jetzt und heute ausbauen könnten.

Prof. Dr. Christian Rehtanz, TU Dortmund

Das Stromnetz zu digitalisieren bedeutet, Datensätze zu integrieren und Prozesse miteinander zu verschränken. Digitalisierung bedeutet auch, nicht mehr nur zentral in Leitwarten zu agieren, sondern darüber hinaus dezentrale Funktionen zu etablieren. Dadurch entstehen viele neue Aufgaben und Prozesse – vor allem solche, die automatisiert ablaufen. „Und sollten dann wirklich alle Elektrofahrzeuge gleichzeitig laden, müsste man als Zwischenlösung eingreifen, um im Rahmen der Netzkapazität zu bleiben“, meint Prof. Rehtanz. Er sieht die Digitalisierung deshalb als essenzielle Technologie, insbesondere auch für die Übergangszeit, in der die Stromnetze noch nicht ausreichend ausgebaut sind.

 

Kosten reduzieren durch Intelligenz

Wird das Stromnetz nicht nur digital, sondern auch intelligent, lässt sich dadurch nicht nur Zeit gewinnen, sondern auch Geld sparen.

Der konventionelle Ausbau von 60 Prozent der Niederspannungsnetze kann auf 30 bis 40 Prozent reduziert werden, indem wir intelligente Steuerung implementieren. Intelligenz ist damit eine Kostenreduktion für den Netzausbau.

Prof. Dr. Markus Zdrallek, Bergische Universität Wuppertal

Laut Prof. Zdrallek ließe sich durch Digitalisierung und Intelligenz in 50 Prozent aller Netze 30 Prozent der Ausbaukosten sparen. Und in 90 Prozent aller Netze sei Intelligenz günstiger als der Komplettausbau. Gerade im Niederspannungsbereich müsse die Steuerung dezentral und vor allem autark vonstattengehen, so Prof. Zdrallek. Bei Hochspannungs- und Übertragungsnetzen sei der Netzausbau jedoch zwingend notwendig.

Zu dem Zusammenwirken aus konventionellem Netzausbau und intelligenten Verteilnetzen bietet die Bergische Universität Wuppertal zwei Leitfäden an: einen für städtische und einen für ländliche Verteilnetze.

 

Next Level durch Flexibilität im Netz

Nicht nur die Last im Stromnetz wird flexibler. Auch das Stromnetz selbst soll durch Digitalisierung und intelligente Steuerung flexibel agieren können. Ein flexibles Stromnetz meint vor allem ein flexibles Lastmanagement: Während einer Lastspitze sollen automatisiert flexible Energieverbraucher zugeschaltet werden, die die überschüssige Spannung aufnehmen. Das können zum Beispiel Elektrofahrzeuge (private wie Flottenfahrzeuge), Wärmepumpen in Haushalten oder private Speicher sein. Sie werden im flexiblen Stromnetz automatisiert angesteuert, um exakt im Bedarfsfall zu laden und zu wärmen bzw. im umgekehrten Fall, dem Netz keinen Strom zu entziehen – und damit für ein stabiles Stromnetz zu sorgen.

Dafür muss es eine gewisse Anzahl an Wärmepumpen und Elektrofahrzeugen geben, die bei  Netzproblemen flexibel ihren Strombedarf anpassen können. Ein hinreichend großes Flexibilitätspotenzial ist die Voraussetzung, damit überhaupt ein Lastmanagement für Versorger möglich ist.

Prof. Dr. Andreas Ulbig, RWTH Aachen

Die Entwicklungen sind positiv: In den vergangenen Jahren ist die Anzahl privater Speicher in deutschen Haushalten deutlich gestiegen. Ihre Kapazität ist mittlerweile insgesamt deutlich größer als die Kapazität großskaliger und industrieller Speicheranlagen zusammen. Ähnlich bei Elektrofahrzeugen: Sie stellen mit ihren Batterien bereits heute die Kapazitäten der deutschen Pumpspeicher in den Schatten.

In der Vision für die Zukunft sind die Elektrofahrzeuge, Speicher und Wärmepumpen sowie die Laststeuerung von Industrieprozessen wesentliche Bestandteile des flexiblen Stromnetzes. Sie werden automatisiert oder durch die Leitwarte angesteuert und nehmen im Bedarfsfall Spannung auf oder geben Spannung ab. Flexible Stromabnehmer werden so wesentlich zur Stabilität des Stromnetzes beitragen.

Hintergrund

Die Professoren Christian Rehtanz (TU Dortmund), Markus Zdrallek (Bergische Universität Wuppertal) und Andreas Ulbig (RWTH Aachen) hatten in Kooperation mit der Landesgesellschaft NRW.Energy4Climate im Oktober 2023 zu einem Workshop eingeladen. Diskutiert wurde zu der Zukunft der Stromnetze und den Chancen von Digitalisierung, intelligenter Steuerung und Flexibilität.

Leitfaden Stadt

Konventioneller Netzausbau und intelligenten Verteilnetze in der Stadt: Leitfaden der Bergischen Universität Wuppertal.

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Leitfaden Land

Konventioneller Netzausbau und intelligenten Verteilnetze auf dem Land: Leitfaden der Bergischen Universität Wuppertal.

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