Energiesystem der Zukunft

Von der Vision zur Realität

Zukunft – das klingt wie etwas, das in weiter Ferne liegt. Doch so ist es nicht. Mit jeder Handlung nehmen wir Einfluss, ja gestalten wir unsere Zukunft. Mit den Klimaschutzzielen von Paris wurde 2015 Zukunft gestaltet. Und mit dem Engagement für ein modernes und klimagerechtes Energiesystem gestalten wir die Zukunft heute weiter. Modern, lebenswert, klimaneutral, wirtschaftlich stark und mit einer weiterhin sicheren und nachhaltigen Energieversorgung. Das ist die Vision für die Zukunft Nordrhein-​Westfalens im Jahr 2050. Um dies zu erreichen, wird sich unser Energiesystem in all seinen Teilbereichen wandeln müssen – hin zu einem Energiesystem der Zukunft und der Energiewelt von morgen. Damit dies gelingt, braucht es eine starke Energieforschung, Innovationen, neue Technologien, neue Produkte und Anwendungen: Sie sind der Schlüssel für eine klimaschonende Zukunft.

Das Energiesystem der Zukunft basiert nicht mehr auf fossilen Energieträgern wie Kohle und Öl. Auch stammt die Energie nicht mehr aus wenigen, zentralen Kraftwerken. Vielmehr rücken erneuerbare Energiequellen in den Fokus, die über das Land verteilt sind – also dezentral liegen – und zum Teil abhängig von Wetter und Tageszeit unterschiedliche Mengen an Energie liefern – das heißt volatil sind. Unser Energiesystem muss also weiter umgebaut werden zu einem flexiblen, dezentralen und intelligenten System. Denn nur diese Eigenschaften ermöglichen ein sicheres Zusammenspiel aus den verschiedenen erneuerbaren Energiequellen wie Windkraft, Sonnenenergie, Geothermie, Biomasse und Wasserkraft. Hierfür braucht es moderne Speichertechnologien. Denn durch leistungsfähige Speicher kann überschüssige erneuerbare Energie, die an stürmischen Tagen oder bei intensiver Sonneneinstrahlung gewonnen wird, gespeichert und beispielsweise bei Windstille oder Dunkelheit wieder in das System eingespeist werden. Auch müssen die unterschiedlichen Sektoren wie Strom, Wärme/Kälte und Mobilität eng aneinander gekoppelt werden. 


Zieljahr 2050
Zahlen bitte

Bis zum Jahr 2050 soll das Energiesystem, wie wir es heute kennen, umgebaut sein: zum Energiesystem der Zukunft. Es wird flexibel, dezentral und intelligent sein. Es wird zuverlässig und sicher sein. Und es wird essenziell sein für den Klimaschutz, die Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen.

Durch Forschung Zukunft gestalten

Soweit der Blick in die Zukunft – denn noch sind wir nicht so weit. Noch ist das Energiesystem nicht so flexibel, dezentral und intelligent, wie es zukünftig erforderlich ist. Aufgabe der Energieforschung ist es, bestehende Technologien anzupassen und zu optimieren, Innovationen hervorzubringen und Produkte und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die den Ansprüchen an ein klimaverträgliches Energiesystem gerecht werden.
Dabei bedeuten alle Ergebnisse aus der Energieforschung einen wichtigen Fortschritt auf dem Weg in Richtung des neuen Energiesystems – wobei diese Ergebnisse natürlich auch angewandt, getestet und erprobt werden müssen. Dafür bietet sich in Nordrhein-Westfalen insbesondere das Rheinische Revier an. Durch den Strukturwandel lassen sich dort Forschungsergebnisse wie innovative Technologien und Produkte an der Schnittstelle zwischen Energie und Industrie ideal einsetzen und ausprobieren. Das Rheinische Revier soll so schon bald zu einer Modellregion für ein real umgesetztes Energiesystem der Zukunft werden.
Aber nicht nur im Rheinischen Revier, sondern auch in der Energieregion Ruhrgebiet und darüber hinaus in ganz Nordrhein-Westfalen sollen Innovationen entwickelt, getestet und etabliert werden. Das Land kann so Vorreiter für zukunftsweisende, moderne und energieeffiziente Technologien werden. Die nordrhein-westfälischen Unternehmen, die diese Technologien entwickeln, können von der global steigenden Nachfrage danach profitieren und zu weltweiten Innovationstreibern werden.

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Das Energiesystem der Zukunft: flexibel, dezentral und intelligent.

In die Zukunft investieren

Diesen Prozess gestaltet die Landesregierung Nordrhein- Westfalen aktiv mit, indem sie die Forschung an zukunftsweisenden Technologien und Weiterentwicklungen unterstützt und massiv in Forschung und Entwicklung investiert. So hat die Landesregierung mehrere Machbarkeitsstudien über die Förderrichtlinie progres.nrw gefördert, um die technische und wirtschaftliche Umsetzbarkeit von Großprojekten zu untersuchen und den Projektkonsortien eine gute Ausgangslage für die anschließende Umsetzung zu verschaffen.
Zum Beispiel wird ein Projektkonsortium, bestehend aus der RWE Power AG, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) und der Fachhochschule Aachen dabei unterstützt, ein bestehendes Kohlekraftwerk im Rheinischen Revier zu einem Wärmespeicherkraftwerk umzurüsten und eine großskalige Umsetzung in Form eines Reallabors vorzubereiten (StoreToPower). Ein Meilenstein war auch die Gründung des Spitzenclusters Industrielle Innovationen (SPIN) in der Metropolregion Ruhr. Mit dieser neuen Innovationsplattform sollen innovative Projekte für das Energiesystem der Zukunft im Ruhrgebiet vorangetrieben werden.

Interview mit Prof. Dr. Manfred Fischedick
„Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine exzellente Ausgangssituation“

© PtJ/A. Köbler
Prof. Dr. Manfred Fischedick ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte beziehen sich unter anderem auf die Transformationsforschung, vor allem im Bereich Energie, Mobilität und Industrie, sowie die nationale und internationale Energie- und Klimapolitik.

Was sind die wichtigsten Strategien, um den Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlenstoffdioxid zu reduzieren?

Fischedick: Im Wesentlichen gibt es vier Strategieelemente: An erster Stelle steht natürlich der Ausbau der erneuerbaren Energien. In Deutschland sind das vor allem Photovoltaik und Windenergie. Gerade beim Ausbau der Windenergie müssen wir wieder deutlich an Dynamik zulegen. Gleichzeitig müssen wir den Ausstieg aus der Verbrennung von fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas vorantreiben. Das zweite Strategieelement ist die Energieeffizienz. Überall wo Energie eingesetzt wird, sollte dies so effizient wie eben möglich erfolgen. Dies hilft nicht zuletzt den Aufwand beim Ausbau erneuerbaren Energien und den damit verbundenen Herausforderungen zu begrenzen. Flexibilität ist das dritte Strategieelement. Die erneuerbaren Energiequellen sind volatil und setzten damit ein sehr anpassungsfähiges Energiesystem voraus und dies sowohl bei der Erzeugung von Strom als auch bei der Nachfrage. Elektrische Verbraucher müssen flexibler werden. Neue Anwendungen wie Elektrofahrzeuge, die über eine Batterie verfügen, bieten dazu gute Voraussetzungen. Und viertens wird dringend ein intelligentes Transport- und Verteilnetz benötigt, das an die neuen Rahmenbedingungen der erneuerbaren Energiequellen angepasst ist.

Was bedeutet das aus technologischer Sicht?

Fischedick: Die meisten Technologien, die wir für die Energiewende brauchen, sind eigentlich heute schon verfügbar, wir haben allerdings häufig ein Umsetzungsdefizit. Nichtsdestotrotz gibt es auch einige Felder, in denen noch geforscht und entwickelt werden muss. Dabei geht es vor allem um Flexibilitätsoptionen wie die Power-​to-X-Technologie. Wie können wir überschüssigen Strom aus erneuerbaren Energiequellen speichern? Wie organisieren wir auch Langzeitspeichermöglichkeiten? Das sind Fragestellungen, die die Energieforschung noch beantworten muss. Ein zweiter großer Komplex ist die Digitalisierung. Die digitalen Möglichkeiten müssen genutzt werden, um zum Beispiel das Energienetz auch bei sehr hohen Anteilen erneuerbarer Energien sicher zu machen, aber auch um das Zusammenspiel der vielen dezentralen Stromquellen intelligent zu managen. Auch hier gibt es noch einiges zu tun. 

„Deutschland muss eine Vorreiterrolle übernehmen und dazu ist es nötig, dass mutige Visionen umgesetzt werden.“ Das ist ein Zitat von Ihnen. Was sind solche mutigen Visionen für Sie?

Fischedick: Aus Sicht vieler Länder hat Deutschland die Vorreiterrolle verloren. Zum einen, weil hierzulande zum Teil sehr zögerlich vorgegangen wird, zum anderen, weil Länder wie China deutlich schneller und konsequenter in der Umsetzung geworden sind. Deswegen braucht es mutige Visionen. Wir dürfen uns nicht nur auf die kommenden zehn Jahre konzentrieren, sondern müssen mutig in Richtung 2050 blicken und dafür schon heute die richtigen Weichen stellen. Um Beispiele zu nennen: Wir müssen jetzt einsteigen in die Wasserstoffstrategie, jetzt in klimaneutrale Prozesse im Bereich der energieintensiven Industrie setzen, jetzt Ernst machen mit dem Umbau eines Mobilitätssystems. 

 

Gerade am Beispiel der Mobilität lässt sich der Unterschied gut verdeutlichen: Es reicht nicht aus, vom Verbrennungsmotor auf den Elektromotor überzugehen, sondern wir müssen tatsächlich auch die Städte umbauen: den Fuß- und Radverkehr attraktiver machen und außerhalb der Städte Infrastrukturen für den Güterverkehr aufbauen, zum Beispiel für Oberleitungs-LWKs. Solche Maßnahmen gehen weit über kleine, schrittweise Veränderungen hinaus. Es sind vielmehr strukturelle Veränderungen und das Überwinden historischer Pfadabhängigkeiten – und genau das meine ich mit Mut. 

Kann Deutschland aus Ihrer Sicht wieder zum Vorreiter werden?

Fischedick: Deutschland und speziell Nordrhein-Westfalen ist ein so starker Forschungs- und Industriestandort, dass man in zentralen Bereichen des Klimaschutzes durchaus wieder in die erste Reihe rücken kann. Das gilt insbesondere für die Power-to-X-Technologie, in der Deutschland noch immer einen gewissen Vorsprung gegenüber anderen Ländern hat – nicht zuletzt deshalb, weil sich in Deutschland aufgrund des im internationalen Vergleich hohen Anteiles erneuerbarer Energien die Herausforderungen der intelligenten Systemintegration früher stellen als in anderen Ländern. Vorreiterpotenzial besteht aber auch bei klimaverträglichen Industrieprozessen und der Flexibilisierung des Energiesystems. Wenn diese Bereiche konsequent weiterentwickelt werden, können wir dort sicherlich auch wieder zum Vorreiter werden.

Power to X: Strom (Power), der im Idealfall aus erneuerbaren Energiequellen stammt, wird umgewandelt in ein neues Produkt, das stellvertretend mit X bezeichnet wird. X kann für Wärme, Gas, Chemikalien oder Kraftstoffe stehen.

Nordrhein-Westfalen ist nicht nur durch Forschungsinfrastrukturen geprägt, sondern genauso durch große Ballungszentren und ländlich geprägte Regionen. Wie bewerten Sie diese Heterogenität?

Fischedick: Gerade weil das Land so heterogen und vielschichtig ist, ist es aus meiner Sicht ein perfektes Reallabor. In einem Reallabor lassen sich innovative Ansätze unter Praxisbedingungen testen und viel lernen. Im Reallabor Nordrhein-Westfalen können wir untersuchen wie Transformation geht, wie die Energiewende realisiert und Klimaschutz organisiert werden kann – bei gesicherter Energieversorgung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Verträglichkeit.

In diesem heterogenen Reallabor gibt es ganz unterschiedliche Herausforderungen: Wie kann ein traditionelles Kohleland zu einem Land für erneuerbare Energien werden? Wie wird ein Stromexporteur zu einem Stromimporteur ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden? Wie können Industrien klimaverträglich werden? Wie gelingt eine sichere Energieversorgung der Ballungsräume? Wie können Städte und ländliche Regionen kooperieren? Wenn wir diese vielschichtigen Fragestellungen erfolgreich lösen, können sich andere Regionen der Welt daran orientieren, denn über kurz oder lang stellen sich dort ganz ähnliche Herausforderungen.

Sehen Sie noch weitere Chancen und Potenziale für Nordrhein-Westfalen?

Fischedick: In Nordrhein-Westfalen haben wir eine exzellente Ausgangssituation: Wir haben starke Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Und auch die Industrie ist sehr forschungsstark. Das sind beste Voraussetzungen – nicht nur um neue Technologien zu entwickeln, sondern auch um sie anzuwenden. Gelingt der Praxistest, entsteht eine große Chance für Nordrhein-Westfalen: Seine Potenziale auszuschöpfen und sich auf dem wachsenden Weltmarkt im Bereich Klimaschutz zu positionieren.

Welche ganz besonderen Herausforderungen gibt es in Nordrhein-Westfalen und wie lässt sich davon profitieren?

Fischedick: Eine der Schlüsselherausforderung ist sicher der geplante Kohleausstieg. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie der fehlende Baustein im Energiesystem ersetzt werden kann, sondern auch darum, wie ehemalige Kohlekraftwerke und Bergbaustandorte in neuer Art und Weise, nämlich für erneuerbare Energien genutzt werden können. Beispielsweise könnten alte Kohlekraftwerke zu neuen Wärmespeicherkraftwerken umgebaut werden. Kompetenzen in diesem Bereich werden in Zukunft weltweit nachgefragt werden. Ein anderer Bereich, der ebenfalls mit dem Kohleausstieg zusammenhängt, sind die Fernwärmesysteme. Kohlekraftwerke liefern ja nicht nur Strom, sondern gerade im Ruhrgebiet auch große Mengen an Fernwärme. Die Herausforderung wird hier sein, zum Beispiel industrielle Abwärme oder auch die Geothermie in die bestehenden Fernwärmenetze einzubinden. Als speziell für Nordrhein-Westfalen wichtigen Punkt ist natürlich außerdem die Versorgungssicherheit zu nennen. Wenn wir hier gute Lösungen finden und ein intelligentes und flexibles Netz entwickeln, können sich daraus ebenfalls profitable Schlüsseltechnologien entwickeln.

Welche Rolle spielt die Energieforschung dabei?

Fischedick: Die Transformation des Energiesystems ist ja, wenn man so möchte, eine Operation am offenen Herzen. Wir verändern das System im laufenden Betrieb und ohne dass es ein Modell gibt, an dem wir uns orientieren könnten. Insofern spielt die Energieforschung eine ganz zentrale Rolle. Wichtig ist aber auch, dass die Forschung früher als bisher mit denjenigen interagiert, die in der Praxis Entscheidungen treffen. 

Wir nennen das transformative Forschung. Dabei geht es in der Forschung nicht mehr nur darum, von außen auf Veränderungen zu schauen und zu lernen, sondern selber Teil des Umsetzungsprozesses zu werden und hierdurch Impulse zu setzen. Zudem braucht die Energieforschung eine stärker ganzheitliche Perspektive, ihr kommt die Rolle zuteil, Ideen und Konzepte mit aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren, um Veränderungsprozesse in ihrer Wirkung richtig bewerten zu können.

Das ist natürlich ein Zwiespalt: Einerseits wollen wir schnell sein, um die Klimaschutzziele zu erreichen, andererseits müssen wir reflektieren und abwägen. Wie ist dieser Spagat zu schaffen?

Fischedick: Das ist tatsächlich eine der spannendsten und herausfordernden Fragen. Sehr wichtig ist dieses ganzheitliche Reflektieren schon sehr früh im Entwicklungsprozess von Technologien und Dienstleistungen – am besten schon im Innovationsstadium. Das heißt aber auch, aus den Ergebnissen Konsequenzen zu ziehen, anders ausgedrückt den Mut zu haben, die ein oder andere Idee nicht weiterzuentwickeln. Denn viel schlimmer ist es, an den Markt zu gehen und erst dann zu merken, dass Systeme an den realen Herausforderungen vorbei entwickelt wurden oder zu viele negative Rückwirkungen haben.

Außerdem braucht es stärkere Netzwerke, in denen Unternehmen mit der Wissenschaft zusammenarbeiten. IN4climate.NRW ist ein Beispiel für so ein Netzwerk. Darin arbeiten viele Branchen interaktiv zusammen und setzen sich zum Beispiel gemeinsam mit der Wissenschaft mit der Frage auseinander, welche Rolle Wasserstoff beim der klimaverträglichen Aufstellung der Industrie spielen kann. Das Zusammenspiel der Netzwerkpartner ist wichtig, um Synergiepotenziale auszuschöpfen und gemeinsam robuste Konzepte zu entwickeln. Gemeinsam Erkenntnisse über eine geeignete Wasserstoffinfrastruktur zu gewinnen hilft zum Beispiel, das Risiko für eigene Fehleinschätzungen zu begrenzen. Hierdurch sinkt gleichzeitig die Hemmschwelle und die eigene Unsicherheit zu investieren, die das ein oder andere Unternehmen zuvor vielleicht hatte.

Wir stellen uns vor: Deutschland ist klimaneutral und die Energieversorgung ist sicher und bezahlbar. Wie würde sich das auf die Motivation anderer Länder für den Klimaschutz auswirken?

Fischedick: Auch wenn Deutschland die Vorreiterrolle im Klimaschutz aktuell verloren hat, schauen trotzdem natürlich noch immer viele Länder auf Deutschland. Wenn es uns in Nordrhein-Westfalen gelingt, klimaneutral zu werden – in einem Land mit hoher Bevölkerungsdichte, in einem Land mit überschaubarer solarer Einstrahlung und überschaubarem Windpotenzial, in einem Land mit viel energieintensiver Industrie – dann wird das international natürlich wahrgenommen. Wir haben immer noch die Chance in Deutschland als Multiplikator zu wirken. Alleine die Tatsache, dass die Stromerzeugung in Deutschland bereits heute zu mehr als 40 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen stammt – und unser Energiesystem trotzdem nicht zusammengebrochen ist – führt dazu, dass auch andere Länder mutiger geworden sind und beginnen, in eine ähnliche Richtung zu denken. Insofern schaut die Welt zu Recht auf Deutschland und ganz speziell auch auf Nordrhein-Westfalen. Und ich hoffe, es gelingt uns ein gutes Beispiel zu sein.

Interview mit Prof. Dr. Andreas Löschel
„Eine Chance für Deutschland als Industrienation“

© A. Löschel
Prof. Dr. Andreas Löschel lehrt an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster Volkswirtschaftslehre, insbesondere Energie- und Ressourcenökonomik. Des Weiteren leitet er das Virtuelle Institut Smart Energy (VISE), ist Vorsitzender der Expertenkommission der Bundesregierung zum Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ und Direktor am Centrum für angewandte Wirtschaftsforschung Münster.

Ökologie und Ökonomie – wie passt das zusammen?

Löschel: Ökologie und Ökonomie passen sehr gut zusammen – wenn die richtigen Rahmenbedingungen gegeben sind. Durch Rahmenbedingungen kann die wirtschaftliche Perspektive des Einzelnen in Einklang mit ökologischen Zielen gebracht werden. Das wird am Beispiel der CO2-Bepreisung deutlich. Entstehen durch den CO2-Ausstoß Kosten, so liegt es im wirtschaftlichen Interesse des Einzelnen, seinen CO2-Ausstoß zu reduzieren. Und genauso liegt diese Reduktion natürlich im ökologischen Interesse, da sich auf diese Weise negative Auswirkungen auf das Klima abschwächen lassen.

Für die Zukunft brauchen wir auch Geschäftsmodelle, die die Ökonomie und die Ökologie gleichermaßen bedienen. Was kommt Ihnen dabei als erstes in den Sinn?

Löschel: Für den Klimaschutz ist insbesondere die weitere Integration von erneuerbaren Energien in den Energiemarkt von zentraler Bedeutung. Da Wind- und Sonnenenergie naturgemäß wetterabhängig sind, variiert jedoch die Energiemenge, die aus erneuerbaren Energien in das Energiesystem eingespeist werden kann. Dieses fluktuierende Angebot trifft auf eine recht starke, konstante Nachfrage. Geschäftsmodelle könnten daher darauf abzielen, Angebot und Nachfrage besser zusammenzubringen und Spitzen im Energiesystem abzumildern. Dies kann zum Beispiel durch Dezentralisierung und Digitalisierung gelingen. Geschäftsmodelle aus diesen Bereichen können Ökologie und Ökonomie gleichermaßen adressieren.

Lässt sich die Digitalisierung auch als verbindendes Element zwischen verschiedenen Einzeltechnologien bewerten?

Löschel: Ja, das gilt natürlich für die Technologien, die wir jetzt schon haben. Sie werden zum Beispiel in virtuellen Kraftwerken oder Smart-Home-Konzepten zunehmend digital miteinander verbunden. Aber der Vorteil von Digitalisierung ist eben nicht nur das Zusammenbringen von Technologien, sondern auch das Koordinieren von Akteuren. Ihre Zahl ist durch die Dezentralisierung des Energiesystems stark gestiegen und um sie zu koordinieren, braucht es datenbasierte Geschäftsmodelle. Nur so kann es gelingen, die dezentrale Energieerzeugung und den Verbrauch in Einklang zu bringen – und zwar automatisiert in Einklang zu bringen. Denn genau dort liegen die Effizienzvorteile, die sich positiv auf Wirtschaft und Klimaschutz auswirken können.

Gibt es noch weitere Gründe, die für die Digitalisierung sprechen?

Löschel: Bisher haben wir ja insbesondere zum Strommarkt gesprochen. Aber natürlich liegen die Chancen für Wirtschaft und Klimaschutz nicht im Strommarkt allein, sondern in der gesamten Energiewelt. Das betrifft zum Beispiel auch die intelligente Mobilität, smarte Gebäude, die Kopplung der Sektoren durch Elektrifizierung und die Umwandlung von Strom in Gas, Wärme oder flüssige Energieträger. Es geht also auch im Energiesystem insgesamt wieder darum, Angebot und Nachfrage zusammenzubringen – mit der Digitalisierung als Vermittler zur Entwicklung passgenauer Produkte.

Gibt es auch Gründe, die gegen die Digitalisierung sprechen würden?

Löschel: Es gibt sicher Fragestellungen, die berücksichtigt werden müssen, wenn immer größere Datenmengen erfasst und verarbeitet werden. Zum einen ist das der Datenschutz personenbezogener Daten. Wenn beispielsweise kontinuierlich der Energieverbrauch einer Wohnung erfasst wird, entstehen Datensätze, die über die Privatsphäre des Einzelnen weitreichend Auskunft geben. Neben Persönlichkeitsschutz ist aber auch die Sicherheit der Daten und die IT-Infrastruktur selbst zu gewährleisten, das heißt entsprechende Schutzmaßnahmen müssen ergriffen werden. Datenschutz und Datensicherheit sind wichtige Bestandteile des Digitalisierungsprozesses. Ich denke aber nicht, dass sie an sich gegen die Digitalisierung an sich sprechen.

Wie bewerten Sie den Energieverbrauch für die Datenspeicherung?

Löschel: Wir sehen, dass Datenzentren mittlerweile einen nicht zu vernachlässigen Teil des Strombedarfs ausmachen. Hier muss sicher optimiert werden. Bei dem Strombedarf handelt es sich jedoch immer noch um einen kleinen Prozentsatz – und gleichzeitig eröffnen sich mit der Digitalisierung eben diese großen Potenziale im Bereich Energieeinsparung und Energieeffizienz: Strom aus erneuerbaren Energien kann effizienter genutzt werden, konventionelle Kraftwerke schneller ersetzt werden, und so weiter. In Summe scheinen mir die Vorteile der Digitalisierung doch deutlich zu überwiegen.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich neue digitale Geschäftsmodelle am Markt etablieren können?

Löschel: Oft sind weniger die technischen Hemmnisse, als vielmehr die wirtschaftlichen Aspekte entscheidend. Geschäftsmodelle müssen sich wirtschaftlich lohnen. Wenn die beschriebenen Flexibilisierungspotentiale nicht wirtschaftlich gehoben werden können, weil etwa zu viel konventioneller Strom im System ist, weil Strom aus erneuerbaren Energien mit hohen Abgaben, Umlagen und Steuern belastet sind oder weil vielfältige regulatorische Hindernisse bestehen, dann können sich digitale Geschäftsmodelle nicht durchsetzen. Es muss also ein entsprechender Rahmen geschaffen werden, etwa indem CO2-Preise steigen, grüner Strom von Zusatzkosten befreit wird und räumliche und zeitliche Flexibilität im Energiemarkt gestärkt wird.

Werden sich die Rahmenbedingungen ändern?

Löschel: Das ist glaube ich eine Notwendigkeit. Auf technischer Seite ist auch schon viel passiert: In Pilotprojekten werden technologische Innovationen getestet und erprobt. Allerdings entsprechen die ökonomischen Rahmenbedingungen eben nicht der Realität, denn Umlagen, Steuern und Abgaben werden im Rahmen dieser Projekte subventioniert. Auf diese Weise haben sich viele Innovationen als technisch erfolgreich erwiesen. Damit sich diese Technologien nun am Markt etablieren können, muss der ökonomische Rahmen angepasst werden.

Wie wichtig sind in diesem Kontext politische Strategien?

Löschel: Politische Strategien sind sehr wichtig, insbesondere wenn es um Lösungen geht, die sich in der Frühentwicklungsphase befinden. Staatliche Unterstützung in der Lernphase kann hier die notwendigen Kostensenkungen schaffen. Oft geht es erst dann wirklich darum, Marktanteile zu gewinnen. Der Staat ist auch bei neuen Infrastrukturen wie Ladesäulen für Strom und Wasserstoff-Tankstellen im Verkehrsbereich gefragt. Solche Infrastrukturfragen können oftmals nicht rein über Märkte gelöst werden, sondern benötigen das staatliche Zutun.

Sie sind unter anderem auch Leiter des Virtuellen Instituts Smart Energy (VISE). Was begeistert Sie an diesem Projekt?

Löschel: Das VISE füllt eine entscheidende Lücke: Wir schlagen eine Brücke zwischen der klassischen Energiewirtschaft, der IT-Welt und der Gesellschaft. Auf diese Weise können wir aus verschiedenen Perspektiven auf die Digitalisierung schauen: aus der technischen, aus der ökonomischen und aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive. Wir sind zum Beispiel mit Unternehmen und mit Verbänden in konstantem Austausch, um auch die Perspektiven aus der Praxis zu verstehen. Kooperation spielt bei uns eine zentrale Rolle.

Plattform des Virtuellen Instituts Smart Energy

Werden durch die Kooperationen auch neue digitale Geschäftsmodelle entwickelt?

Löschel: Wir versuchen mit großem Engagement, die Grundlage dafür zu schaffen. Im Bereich privater Haushalte arbeiten wir zum Beispiel mit Verbraucherzentralen und Handelskammern zusammen. Gemeinsam untersuchen wir unter anderem das Investitions- und Nutzungsverhalten bezüglich Smart-Home-Anwendungen, um so die Effekte im Sinne der Energieeffizienz, des Komforts und der Sicherheit bewerten zu können. In ähnlicher Weise arbeiten wir auch mit kleinen und mittelständischen Unternehmen zusammen, mit denen wir Anwendungsmöglichkeiten im Bereich Energieeffizienz und Energie- und Lastmanagement identifizieren möchten. Grundsätzlich versuchen wir also, neue digitale Geschäftsmodelle wissenschaftlich zu analysieren. Wir wollen verstehen, welche Optionen sich ergeben.

Nutzen Sie Ihre Ergebnisse auch zur Politikberatung?

Löschel: Wir wollen mit unseren Ergebnissen zum öffentlichen Diskurs beitragen und machen das auf verschiedene Wege. So haben wir eine ganze Reihe von Konferenzen und Workshops durchgeführt. Wir erstellen regelmäßige Policy Briefs, in denen wir unsere Forschungsergebnisse und Analysen zusammenfassen, Ausblicke geben und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Und wir stehen in direktem Dialog mit der Politik, um wichtige Forschungsfragen und -felder zu identifizieren.

Wie stellen Sie sich die Energiewelt im Jahr 2050 vor?

Löschel: Das Ziel für das Jahr 2050 ist Klimaneutralität. Das bedeutet, dass wir nur genau so viel CO2 ausstoßen, wie wir auch wieder aus der Atmosphäre herausholen können. Für Deutschland bedeutet das, dass die Emissionen praktisch auf null sinken müssen. Es wird also eine erneuerbare Welt sein.

Dieses Vorhaben ist nicht nur ein spannendes Projekt, sondern birgt auch große Chancen für Deutschland als Industrienation. Im Pariser Abkommen haben sich alle Länder dazu verpflichtet, die globale Erderwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen, besser auf 1,5°C. Null-Emissionen werden damit zu einem globalen Vorhaben. Know-how, Technologien und systemisches Wissen werden also auch global benötigt und nachgefragt werden. Und gerade in diesem systemischen Wissen liegt die große Chance für Deutschland. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir jetzt die verschiedenen Perspektiven sinnvoll zusammenfügen, jetzt Systemlösungen entwickeln – und dann auch nach außen tragen.

Leuchtturmprojekte

Diese Projekte aus Nordrhein-Westfalen zeigen schon heute, wie die Transformation des Energiesystem gelingen kann.

Designetz - Schaufenster für intelligente Energiezukunft

Schaufenster befinden sich in Innenstädten und in den Schaufenstern liegen Waren aus, die wir begutachten, auswählen und kaufen können. So kennen wir es. Seit 2016 gibt es aber auch Schaufenster der Energieforschung. Und erstaunlicherweise funktionieren sie ganz ähnlich wie die Schaufenster in den Innenstädten.

Schaufenster-Projekte oder Reallabore werden sie genannt: Die großangelegten Projekte, in denen Innovationen und Technologien aus der Energieforschung angewandt und getestet werden – nicht nur im Labor, sondern auch konkret vor Ort. Und die Projekterfolge werden wie in einem Schaufenster präsentiert: Expertinnen und Experten sowie Bürgerinnen und Bürger können sie begutachten und die besten Lösungen nutzen. Denn eben diese besten Lösungen können als Vorlage für ganz Deutschland dienen und damit Musterlösungen für eine klimafreundliche, verlässliche und effiziente Energieversorgung sein.

Im Februar 2015 hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie das Förderprogramm „Schaufenster intelligente Energie – Digitale Agenda für die Energiewende (SINTEG)“ ins Leben gerufen. Die Energiezukunft soll durch fünf Schaufenster betrachtet und in Modellregionen großflächig erforscht und erlebbar gemacht werden.

Einzellösungen zu einem Gesamtsystem vereinen

Das SINTEG-Schaufenster in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz und im Saarland heißt Designetz. In diesem Projekt sollen Blaupausen für das Stromnetz der Zukunft entwickelt werden. Ziel ist es, große Anteile erneuerbarer Energien in das Energiesystem zu integrieren. Gleichzeitig soll der Umbau des Stromnetzes so gering wie möglich – und damit kosteneffizient – gehalten werden. Dafür werden dezentrale Einzellösungen zu einem Gesamtsystem vereint. Im Projekt wird ein breites Portfolio an technischen und marktdienlichen Lösungen realisiert, analysiert und bewertet. Rund 30 Teilprojekte adressieren die Bereiche Energiemarkt und -handel, intelligenter Netzbetrieb sowie Informations-  und Kommunikationstechnik.

Übertragbar auf alle Bundesländer Deutschlands

Die drei Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland sind durch eine Mischung aus Metropolen, Industriezentren und dünn besiedelten Regionen charakterisiert. Die in Designetz erarbeiteten Lösungen lassen sich daher auf nahezu alle Bundesländer in Deutschland übertragen. Die Projektpartner setzen sich aus Unternehmen der Energiewirtschaft, der Industrie, der Branche zu Informations- und Kommunikationstechnologien sowie aus wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen zusammen. Konsortialführer ist die E.ON SE. Als Vertreter des Konsortialführers bildet E.ON-Netzvorstand Dr. Thomas König zusammen mit den für Energie verantwortlichen Ministerinnen und Ministern der drei Bundesländer – Minister Professor Dr. Andreas Pinkwart für Nordrhein-Westfalen – den politischen Beirat von Designetz. Über diese Schnittstelle zwischen Politik und Forschung können die politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen begleitet werden.

Mehr Infos zum Projekt

DGE-ROLLOUT: Potenziale der Tiefengeothermie nutzen

Die Infrastruktur der traditionellen Energiebranche kann auch für das Energiesystem der Zukunft genutzt werden. So wird untersucht, ob die Region Weisweiler tiefengeothermische Potenziale bietet und ob das vorhandene Verteilernetz des Braunkohlekraftwerks Weisweiler künftig mit Erdwärme gespeist werden kann. Im Oktober 2019 wurde für den Standort ein 3D-Untergrundmodell erstellt. Ende 2020 soll eine Explorationsbohrung dessen Ergebnisse verifizieren. Die Untersuchungen in Weisweiler finden im Rahmen des EU-Interreg-Projekts DGE-ROLLOUT (Roll-out of Deep Geothermal Energy in North-West Europe) statt, das von 2018 bis 2022 durchgeführt und vom Geologischen Dienst NRW koordiniert wird. Durch das internationale Projekt sollen Lage und Ausdehnung hydrothermaler Reservoire erkundet, Investitionsrisiken reduziert, bestehende tiefengeothermische Anlagen optimiert und somit der CO2-Austoß reduziert werden.

SPIN-Projekt: Digitales Service Center

Sich im weltweiten Wettbewerb um neue Technologien zu positionieren, die klimaschützende Transformation der Industrie und des Energiesystems voranzutreiben und damit Arbeitsplätze im Ruhrgebiet zu schaffen – das sind die Ziele des „Spitzenclusters Industrielle Innovationen (SPIN)“. Im Rahmen dieser Innovationsplattform gestalten Industrie und Forschung den Strukturwandel des Ruhrgebiets über vielfältige Projekte. Eines davon ist das Digitale Service Center: Es wird cloudbasierte Softwarelösungen anbieten, die bis Januar 2023 entwickelt werden, und die mithilfe von künstlicher Intelligenz Energieerzeugungsanlagen überwachen können. Mit den so ermittelten Informationen zum Gesamtsystem und zu Einzelkomponenten können Betreiber ihre Anlagen energieeffizienter fahren und den optimalen Zeitpunkt für Wartungsarbeiten bestimmen. Auch Störungen sollen frühzeitig erkannt und qualifizierte Hinweise für Gegenmaßnahmen gegeben werden.

EnerPrax: Energiespeicher in der Praxis

Bei rein regenerativer Stromversorgung muss die Energieversorgung auch in Phasen, in denen erneuerbare Quellen wenig Energie liefern, gewährleistet sein. Das kann durch leistungsstarke Speichertechnologien gelingen. In der FH Münster wurde daher von Dezember 2016 bis November 2019 die Kombination aus PEM-Elektrolyseur, Lithium-Ionen-Batterie und Redox-Flow-Batterie untersucht. Standort ist die Kommune Saerbeck, die einen Überschuss an Energie aus Wind, Sonne und Biomasse erwirtschaftet. In kleinem Maßstab kann dort schon heute das Energiesystem der Zukunft getestet werden.

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